Physical Distancing – meine Mutter findet es entrisch

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Physical distancing. Tag XY  Mittwoch, 22. April 2020 in Wien. Dieser Artikel spiegelt ausschließlich die persönlichen Eindrücke der Autorin wider. 

 
Woche 5 seit dem Corona-Lockdown in Österreich. Seit Montag treten immer mehr Lockerungen in Kraft. Das Land soll langsam wieder hochgefahren werden, auch wenn die Maßnahmen der Regierung bis zu weiten Teilen weiter bestehen. Dazu zählen auch die Regeln beim Einkaufen.
 
Meine Mutter erzählte mir bei unserem letzten Telefonat von ihrem Erlebnis im Supermarkt.
„Alle laufen brav mit den Masken herum und gehen sich aus dem Weg. Zumindest so gut es möglich ist. Aber keiner traut sich mehr, den anderen anzuschauen. Es war schon fast totenstill da drinnen. Richtig entrisch.“

 

Beim Wort entrisch zuckte ich innerlich zusammen.

Ich will nicht, dass sich meine Mutter unwohl fühlt, nur weil sie einmal in 2 Wochen rausgeht, um das Nötigste zu besorgen. Da sie beinahe 200 Kilometer weit weg lebt, kann ich das leider nicht für sie erledigen. Meist hilft jemand in ihrer Nähe und wenn die Zeit fehlt und Mama selbst geht, hält sie sich streng an die Vorgaben. Wir reden immer wieder lang und breit darüber, obwohl sie ohnehin über den von der Regierung viel zitierten Hausverstand verfügt.
 
Eine ältere Dame in meinem Haus hat mich gefragt: „Was ist eigentlich mit dem Herrn Kogler los? Macht der jetzt Werbung für Billa oder hält der ganz Österreich für deppat?“ Eine launige Anspielung auf die eine oder andere sich wiederholende Floskel des Vizekanzlers. Ich musste schmunzeln, was sie natürlich nicht gesehen hat. Wir trugen ja beide Masken und waren 2 Meter voneinander entfernt. 

Für meine Mutter ist der seltene Weg zum Supermarkt wichtig, um endlich wieder einmal frische Luft zu tanken, und „natürlich will man hin und wieder echte Menschen sehen“, sagt sie, „auch wenn wir einen riesigen Bogen umeinander machen.“

 

Ist das diese neue Normalität, von der jetzt alle reden?

Sicher nicht. Meine Mum ist ein kommunikativer Mensch und war selbst viele Jahre im Handel beschäftigt. Uns ist beiden klar, dass physische Distanz in Geschäften nicht immer einzuhalten ist, zumindest nicht in der Form, wie es laut Regierung sicher wäre. Wie soll schließlich in einem Gang, der nur 1, 5 Meter breit ist, mindestens ein Meter Abstand gehalten werden, wenn es kein Einbahnsystem gibt. Außerdem denkt man nicht jede Sekunde daran, weil es eben nicht „normal“ ist.

Von klein auf haben wir gelernt, dass man andere Menschen nicht ausgrenzt und stets hilfsbereit und freundlich sein soll. Wenn jemand vor einem Regal steht und nicht zum Zucker kommt, greifen die meisten Leute selbstverständlich hin, um zu helfen. Heute ist das freilich anders.

 

Statt zu helfen, starren wir zu Boden.

Nicht weil Menschen böse sind, sondern weil diese Masken irgendwie unheimlich sind. Außerdem müssen wir sowieso Distanz halten – diesbezüglich sind sich Politiker, Virologen und Epidemiologen weitgehend einig. Die Expertenmeinungen finde ich extrem wichtig, denn sie helfen dabei, den Sinn hinter den einzelnen Maßnahmen zu erkennen – oder auch nicht. Leider werden die Fachleute bei uns kaum vor den Vorhang geholt, dabei könnten gerade sie die Eigenheiten des Virus aus erster Hand erläutern und Handlungsempfehlungen geben, die einleuchten.
 
  • Vielleicht würden dann mehr Menschen aus Überzeugung handeln und weniger deshalb, weil es jemand vorgibt.
  • Vielleicht müsste man dann nicht mehr von oben herab an den Hausverstand der Nation appellieren, sondern könnte den Menschen mehr auf Augenhöhe begegnen.
  • Vielleicht würden wir uns dann auch weniger schuldig fühlen, wenn wir uns versehentlich einmal näher kommen, als erlaubt.

 

Es ist nämlich keine Schuldfrage und auch nicht immer eine Frage von mangelndem Hausverstand.

Manchmal schon, aber eben nicht immer. Wir haben diese Art von Abstand einfach nicht gelernt und müssen uns jetzt um-trainieren. Mit Sicherheit würde das besser funktionieren, wenn man den Sinn hinter diversen Maßnahmen durch Expertenmeinungen, neue Erkenntnisse (und wenn vorhanden durch Studien) besser untermauern würde, anstelle den Leuten unterschwellig zu suggerieren, man hätte keinen Hausverstand, wenn man nicht ohne zu murren folgen würde. Das weckt nämlich in vielen von uns das Gefühl, dass wir kleine Kinder sind, die gefälligst das zu tun haben, was die Obrigkeit sagt. Übrigens ist hier nicht Gesundheitsminister Rudi Anschober gemeint, dessen Empathie, Authentizität und Ruhe ich persönlich sehr schätze.

 

Gleiches gilt für das Tragen von Masken.

Auch damit sind wir nicht aufgewachsen. Im Laufe unseres Lebens haben wir viel über Masken gehört. Es gibt unterschiedliche Arten: zum Beispiel die lustigen, die wir im Fasching tragen. Die Guten, die Ärzten und medizinischem Personal vorbehalten sind. Die Traditionellen wie Krampus oder Perchten. Und dann gibt es noch die anderen.
 
 
Masken, die uns unheimlich sind, weil wir nicht wissen, was uns dahinter erwartet.

Lacht uns da jemand an oder zieht die Person die Mundwinkel nach unten? Das alles und noch mehr verrät uns normalerweise die Mimik. So konnten wir bis vor kurzem noch erkennen, wie uns das Gegenüber gesinnt war. Jetzt fällt das weg. Hinzu kommt, dass verhüllte Gesichter in der Vergangenheit  immer wieder negativ behaftet wurden – in Filmen, Geschichten und im echten Leben. Oft verbarg sich etwas Unheimliches oder gar Bedrohliches dahinter. Denken wir nur an die typischen Bilder von Internet-Hackern, Bankräubern oder Terroristen. Das alles muss jetzt aus unseren Köpfen wieder raus, und zwar schnell.

„Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich das Virus persönlich. Dabei merken die Leute gar nicht, dass ich unter meiner Maske eh freundlich schaue,“ sagte meine Mutter bei unserem Telefonat.
„Den anderen geht es genauso,“ antwortete ich, „und vielleicht schauen die ja auch freundlich.“ Dann haben wir uns ausgemacht, dass wir künftig besonders darauf achten wollen, unter der Maske zu lächeln und davon auszugehen, dass es die anderen ebenfalls tun.
 
Denn auch das steckt in vielen von uns drin:
prophylaktisch das Böse zu vermuten, ohne zu wissen, was wirklich dahinter steckt, anstelle von vornherein dem Guten mehr Raum zu geben. Jetzt ist die richtige Zeit, um Glaubenssätze wie diese endgültig zu verabschieden.
 
 
 

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